Das Brasilien, aus dem ich herkomme
5 April 2016
Wenn ich an Brasilien denke, ist es schwierig zu verstehen, wie so ein großes Land mit so viel Rohstoffen es nicht schafft, einen international respektablen Status zu erringen. Mir fallen dafür einige Gründe ein.
Mentalität — in der Mentalität steckt eine Vorliebe für den Weg des geringen Widerstands: in der Schule interessieren sich Schüler oft für gute Noten aber nicht für den Stoff. Einfach nur bestehen lautet das Motto, so knapp wie möglich. Diese Lethargie, in der Jugend gut eingeprägt, findet sich in späteren Bereiche des Lebens wieder. Beispiel Berufsleben: Viele Brasilianer träumen vom Beamtentum: unkündbar zu werden und dazu noch hohe Gehälter zu verdienen. "Blau zu machen" ist nicht verpönt. Je nachdem wie man das macht, kann das sogar lustig sein. Beispiel Politik: noch höhere Gehälter, die Chance durch politischen Einfluss extra Geld bei Unternehmen zu verdienen. Gehälter von Politikern betragen obszöne Ziffern, Politiker haben unzählige andere Privilegien — und das alles auf legale Wege, denn die Politiker machen ihre Gesetze selbst.
Die Hauptaufgabe des Politikers wird vernachlässigt: im Interesse des Volks zu handeln. Das ist ein wesentlicher Unterschied in der Denkweise der brasilianischen Politiker im Vergleich zu Nordeuropa: Politiker denken nicht gemeinschaftlich. Der normale Bürger sieht anhand der Fakten (schwache Wirtschaft, Korruptionsskandale), dass nicht im Interesse der Gemeinschaft ( Land, Provinz oder Kommune) gehandelt wird, sondern immer im eigenen Interesse. Viele normale Bürger sind nicht gebildet genug, um selber zu wissen, was ihnen zusteht, welche Macht eine Wahl verleiht und dass er mit seinen Steuern das gesamt System finanziert — Steuern, die er teils unwissend zahlt — unwissend, weil viele nicht wissen, was MwSt. ist.
Korruption — Korruption findet oft subtil im Alltag statt: einen Arzttermin in öffentlichen Krankenhäusern bekommt man schneller, wenn man jemanden kennt, der die Sache beschleunigt. Freunde, die herumfragen, ob jemand jemanden kennt, der einem zu einer Stelle bei der Firma X verhelfen kann. Gute Arbeitsstellen werden an Kumpel und Kinder von Freunden gegeben, ohne ein Auswahlverfahren. Bei Kommunalwahlen reparieren manche Kandidaten ihren Wählern ein Dach oder verschenken Baumaterial für Hausreparaturen — alles für eine Stimme. Das Programm des Kandidaten ist oft egal — oder nicht vorhanden. Wer jemanden kennt ist im Vorteil, wer einen Vorteil genießt hat Glück. All das wird nicht nur toleriert, sondern auch gepflegt.
Danach wird wenig für das Volk getan. Beispiel Telefonie: in der EU (flächenmäßig so groß wie Brasilien) wird demnächst europaweit die Roaming—Gebühr für Mobiltelefone abgeschafft. In Brasilien dagegen zahlt man Roaming—Gebühren sogar innerhalb desselben Bundeslandes. Flat—Rate—Telefonie gibt es kaum. Geschichten von Leuten, die ihre Handy—Rechnungen "aus Versehen" in Höhe von 150 EUR getrieben haben, wenn ihr Lohn gerade 200 EUR beträgt, höre ich in Brasilien immer wieder. In Europa gab es das früher einmal, heute nur noch selten. Warum wird hier nicht gehandelt? Ich kann mir vorstellen, dass Politiker mit Geld von den Telefonriesen zufrieden gestellt werden.
Straflosigkeit — Alle Brasilianer in einen Topf zu werfen, ist unfair. Es gibt viele Menschen, die politisch bewusst sind. Sie protestieren gegen die Verantwortungslosigkeit der Politiker sowie gegen den schlechten Zustand der Wirtschaft. Die Partei der jetzigen Präsidentin ist das Ergebnis eines Widerstands: das Volk hatte die elitären Parteien gegen die Arbeiterpartei ausgewechselt. Damals hieß es: jetzt kommt jemand vom Volke in die Regierung. Anfangs hat es auch gewirkt: mehr Budget für Sozialhilfe und Bildung wurden eingeplant. Brasilien kam damit ein Stückchen näher an einen Sozialstaat heran, wie man ihn in Europa kennt. Dem Lande ging es eine Weile lang gut — viele schreiben allerdings diese Wohlfahrt der Arbeit der vorherigen Regierung zu. Heute gibt es wieder Skandale ohne Konsequenzen. Die Justiz arbeitet nicht im Interesse des Volkes. Korruption wird nicht beendet und bestraft, gestohlenes Geld wird nicht zurückgeholt. Wegen der Straflosigkeit verliert das Volk nach und nach das Vertrauen in das Justizsystem, verliert jede Perspektive und ist dem System wehrlos ausgeliefert. Dabei gibt es in Brasilien durchaus eine funktionierende Verfassung. Es gibt gute Juristen im Lande. Bestes Beispiel ist das "Impeachment" gegen die Präsidentin: sowohl die Gegner als auch die Verteidiger der Präsidentin argumentieren gut. Am Ende bewegt sich leider nichts.
Befangene Presse — das Amtsenthebungsverfahren der brasilianischen Präsidentin wird zum Teil im öffentlichen Fernseher übertragen. Die Presse kommt mir tendenziös vor: Demos gegen das Impeachment und die Verteidigung der Präsidentin werden in den Nachrichten hervorgehoben. An bestimmten Tagen wird nur die Verteidigung der Präsidentin im Fernseher gezeigt. Aber das einfache Volk interessiert sich nicht für Prozesse oder versteht nicht, worum es geht. Vielleicht hat das Volk bereits die Hoffnung aufgegeben. Sogar wenn die Medien einmal nicht auf der Seite der Mächtigen stehen, z.B. wenn über die Verwicklung brasilianischer Politiker in die Affäre um die Briefkastengesellschaften in Panama (PanamaPapers) berichtet wird, interessiert es wenige. Insofern kann der mächtige Fernsehsender "Globo" es sich leisten alles zu zeigen. Konsequenzen sieht man selten.
Meiner Meinung nach wird in Brasilien im Fernsehen zu viel Unterhaltung gezeigt Aber da stehen die Brasilianer vielen Ländern in Europa in nichts nach. Wichtige Prozesse geraten dadurch nach anfänglicher Aufregung schnell in Vergessenheit. Die Presse sollte dagegen einen Prozess bis zum Ende nachverfolgen.
Fazit — Mir fällt es schwer über mein Land ein vernichtendes Urteil zu fällen. Brasilien ist kein endloses Chaos. Es hat funktionierende Organe: Steuer werden erhoben, Straßen sind in einem guten/durchschnittlichen Zustand, es gibt gute öffentliche Universitäten, um einiges zu erwähnen. Das brasilianische Gesundheitssystem ist besser als das amerikanische. Brasilien hat eine funktionierende Verfassung, im Gegensatz zu vielen Ländern in Afrika und Asien. Das brasilianische Volk wirkt natürlich glücklich und optimistisch trotz allen widrigen Umständen. Brasilianer haben Freude daran, Gäste gut zu empfangen. Viele wollen nichts von einer Krise wissen, um die Stimmung nicht zu verderben, nach dem Motto: "was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß". Brasilianer sind gut gelaunt und schlagfertig. In einem Gespräch über die Krise sagte mein Onkel: "jedes Land hat seine eigenen Problemen: mir ist die Krise in Brasilien lieber, als in Brüssel in die Luft gesprengt zu werden". Brasilien bleibt ein privilegiertes Land, auf seine eigene Art und Weise: durch das Volk und seine Einstellung — nicht durch seine Politik und Wirtschaft.